Überblick: Das okulodigitale Phänomen

  • Augenbohren ist ein stereotypes Verhalten bei Blinden und hochgradig Sehbehinderten.
  • Augenbohren allein ist kein Zeichen für eine geistige Behinderung.
  • Verschiedene angeborene Augenerkrankungen, aber auch Autismus, sind dafür verantwortlich.
  • Der Zweck des okulodigitalen Phänomens ist vermutlich das Auslösen von Lichtreizen zur Regulierung der Gehirntätigkeit.
  • Augenbohren kann dazu führen, dass sich die Augäpfel weiter in die Augenhöhle verlagern. Dies ist nicht gefährlich, sondern ein kosmetisches Problem.
  • Mit Verboten sollten Sie vorsichtig sein, seelische Probleme der Kinder können die Folge sein.

Was ist das okulodigitale Phänomen?


Das Augenbohren ist eine unbewusste Verhaltensweise, die bei blinden und hochgradig sehbehinderten Säuglingen und Kindern auftritt. Hochgradig sehbehindert bedeutet, dass das bessere Auge ein Restsehvermögen von unter fünf Prozent besitzt. So können hochgradig sehbehinderte Menschen, im Gegensatz zu Blinden, zum Beispiel noch einzelne Farben oder Lichterscheinungen wahrnehmen. Beim okulodigitalen Phänomen bohren Betroffene zumeist in beiden Augen. Nur wenn ein oder beide Augen entfernt wurden, hört die Angewohnheit zumeist auf. Das Augenbohren kann in verschiedenen Varianten ausgeführt werden:

  • Fäustchen, Knöchel, Zeigefinger oder andere Finger berühren das Augenlid und üben Druck auf die geschlossenen Augen und somit den Augapfel aus.
  • Ein Spielzeug, zum Beispiel der Fuß einer Puppe, wird gegen die Augen gedrückt.
  • Der Kopf wird geneigt und die Augen ruhen sich auf den Handgelenken aus.
  • Finger werden zwischen Bulbus und Orbita, also Augapfel und Augenhöhle, gedrückt.

Der Vorgang des Augenbohrens kann mehrere Sekunden bis Minuten dauern und läuft zumeist als unbewusste, zwanghaft wiederholte Handlung ab (Stereotypie). Bei blinden Menschen werden auch andere Stereotypien wie das rhythmische Hin- und Herschaukeln des Oberkörpers beobachtet.

Gut zu wissen:

Der Anblick eines Kindes beim in die Augen bohren erschreckt viele Eltern oder wird gar mit selbstverletzendem Verhalten oder einer geistigen Behinderung in Verbindung gebracht. Augenbohren kann zwar auch in Kombination mit einer geistigen Behinderung auftreten, ist allein aber kein Zeichen für eine geminderte Intelligenz oder selbstverletzendes Verhalten.

Wer ist vom Augenbohren betroffen?


Augenbohren ist kein besonders gut untersuchtes Phänomen. Deshalb gibt es nur erste Anhaltspunkte dafür, bei welchen Augen- oder Allgemeinerkrankungen sich Betroffene in den Augen bohren. Zu den Ursachen am Auge gehören vor allem angeborene Augenerkrankungen, die zu Blindheit oder einem stark reduzierten Sehvermögen führen, wie:

  • Netzhautablösung
  • Netzhautdystrophien, zum Beispiel die Leber’sche kongenitale Amaurose: Bei dieser Erbkrankheit ist die Funktion der Netzhaut gestört, eine erhebliche Sehbeeinträchtigung oder Blindheit zeigt sich spätestens im ersten Lebensjahr.
  • Frühgeborenen-Retinopathie (Retinopathia praematurorum): Diese Netzhautschädigung wird durch die unvollständige Gefäßausbildung bei Frühgeborenen in Kombination mit künstlicher Beatmung ausgelöst.
  • fehlende Verbindung zwischen Sehnerv und Sehzentrum
  • abnorm kleines Auge (Mikrophthalmus)

Die beiden letzten Erkrankungen sind angeborene Fehlbildungen des Auges, die bei der Embryonalentwicklung im Mutterleib entstanden sind. Bei Frühchen, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren sind und künstlichen Sauerstoff zur Beatmung erhalten haben, sollte immer eine augenärztliche Untersuchung erfolgen, um eine Schädigung der Netzhaut zu vermeiden. Neben den angeborenen Augenerkrankungen zeigt sich das okulodigitale Phänomen bei taubstummen Kindern oder Kindern mit frühkindlichem Autismus.

Zeitpunkt

In welchem Alter Säuglinge mit dem Augenbohren anfangen, hängt von der Augenerkrankung ab, die das Sehvermögen beeinträchtigt. Beobachtungen weisen jedoch darauf hin, dass das okulodigitale Phänomen nach acht bis zehn Lebensmonaten, spätestens nach einem Jahr beginnt und zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr seltener wird.

Welchem Zweck dient das Augenbohren?


Bedenkt man, dass 80 bis 90 Prozent aller Umwelteindrücke über das Auge wahrgenommen werden und dass Säuglinge mit starken Sehbeeinträchtigungen auf diese Reize meist komplett verzichten müssen, erschließt sich der Sinn des Augenbohrens ein wenig: Durch die Ausübung von Druck auf die Netzhaut werden höchstwahrscheinlich kurze Lichtblitze und -erscheinungen (entopische Phänomene) hervorgerufen, die für den Säugling interessant sind. Optische Eindrücke sind für die Entwicklung eines Kindes scheinbar so wichtig, dass auch blinde Säuglinge nicht komplett darauf verzichten können. Manche Betroffene berichten von Sternchen oder kleinen Figuren, die sie durch das okulodigitale Phänomen wahrnehmen können.

Somit würde das Augenbohren die Gehirntätigkeit regulieren und wäre für das blinde Kind eine Möglichkeit zur An- oder Abregung der Großhirnrinde bei Unterforderung oder Überforderung. Das Augenbohren verhilft dem Kind dieser Theorie nach zu einem mittleren Erregungsniveau des Gehirns, was sich als Zustand angenehmer Wachheit bezeichnen ließe (“Arousal“ deutsch: „Erregungs-Ansatz“). Betrachtet man verschiedene Ansätze zum Sinn von Stereotypien bei Blinden, kommen noch zwei weitere Erklärungsmöglichkeiten hinzu:

  • Das blinde Kind nutzt das Augenbohren als „Übergangsverhaltensweise“, bis es zu einer reiferen Handlung (zum Beispiel Laufen) fähig ist.
  • Durch das Augenbohren erhält das blinde Kind mehr Zuwendung (auch negativer Art) oder kann unangenehme Situationen beenden.

Insgesamt ergänzen sich wohl alle drei Erklärungsansätze. Dafür spricht auch, dass das Augenbohren sowohl beim Lernen, also geistiger Anstrengung auftritt, als auch vor dem Einschlafen oder bei Langeweile. Das blinde Kind profitiert somit vermutlich auf mehrfacher Weise vom okulodigitalen Phänomen.

Ist in den Augen bohren bei Blinden schädlich?


Blinde Säuglinge oder Kleinkinder können noch nicht einschätzen, ob sie sich mit einer Verhaltensweise schaden. Allerdings können sie sehr wohl Schmerz empfinden und passen den Druck ihrer Hände somit meist an, sodass er für sie nicht unangenehm ist. Dass die Kinder keinen oder nur einen kurzen Schmerz spüren, heißt jedoch nicht, dass das Augenbohren folgenlos bleibt. Bekannte Auswirkungen des okulodigitalen Phänomens bei Kindern sind

  • ein Schwund des Orbitalfetts (das hinter dem Augapfel gebildete Fett)
  • das Zurücksinken der Augäpfel in die Augenhöhle

Beides äußert sich darin, dass die Augäpfel tiefer in den Höhlen liegen, also weiter nach hinten rutschen (Enophtalmus). Grundsätzlich ist dies gesundheitlich nicht gefährlich, sondern eher ein kosmetisches Problem. Der Augapfel wird niemals komplett nach innen rutschen, da die Augenhöhle trichterförmig gebaut ist. Theoretisch möglich ist, dass durch das häufige Berühren der Augen vermehrt Krankheitserreger ins Auge gelangen und dort beispielsweise Entzündungen verursachen. Die seelische Belastung der Kinder, die durch das Unterbinden und die Verbote des Augenbohrens entstehen, sollten allerdings mitberücksichtigt werden: Wer seinem Kind den Griff zum Auge verbietet, fördert bei diesem Ängste und eine negative Beziehung zum Auge. Keinesfalls sollte das Augenbohren mit körperlicher Gewalt unterbunden werden!

Fazit:

Augenbohren sieht zwar für Außenstehende schlimm aus, ist aber für das betroffene Kind nicht mit bedeutenden gesundheitlichen Auswirkungen verbunden. Die Augäpfel können sich zwar in die Höhlen zurückverlagern, was das Aussehen ihres Kindes verändern kann. Dennoch müssen Sie Ihr Kind nicht mit strengen Verboten vom Augenbohren abhalten.

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